Wenn der Vertrag zum Mysterium wird – und der Widerruf zur letzten Rettung
Verträge, die rückblickend wie ein Trick wirken. Versicherte, die nie wussten, wofür sie wirklich zahlen. Und ein System, das Jahrzehnte lang auf Intransparenz baute – bis der Bundesgerichtshof einschritt. Wer in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren eine Lebensversicherung abschloss, tat dies häufig im Vertrauen auf eine sichere Altersvorsorge. Was viele nicht ahnten: Sie unterschrieben Verträge, deren Bedingungen und Kosten erst nachträglich übermittelt wurden – ein Vorgehen, das gegen geltendes EU-Recht verstieß. Die juristische Aufarbeitung dieses strukturellen Verbraucherschutzversagens hat längst begonnen. Doch was, wenn die Verantwortung nicht nur bei den Versicherern liegt – sondern auch bei den Anwälten, die diese Missstände eigentlich beseitigen sollten?
Wie Millionen Lebensversicherte systematisch benachteiligt wurden – und warum ihr Recht auf Rückabwicklung jetzt auf dem Spiel steht
In den 1990er Jahren nutzten deutsche Lebensversicherer nahezu flächendeckend das sogenannte Bruttopolicen-Modell. Dabei galt der Vertrag bereits mit der Unterschrift unter den Antrag als abgeschlossen – während alle relevanten Vertragsunterlagen, darunter auch Informationen zu Abschluss- und Verwaltungskosten, erst im Nachhinein zugestellt wurden. Dieses Verfahren hatte für die Versicherer strategischen Vorteil: Viele Versicherte nahmen die Details nie zur Kenntnis oder hielten sie für nebensächlich. Doch aus rechtlicher Sicht war das Modell problematisch: Die damals geltenden EU-Verbraucherschutzrichtlinien – insbesondere die RL 90/619/EWG, RL 92/96/EWG und später RL 2002/83/EG – verlangten eindeutig, dass Verbraucher alle wesentlichen Vertragsinformationen vor Vertragsabschluss erhalten müssen.
Deutschland setzte diese Regelungen jedoch nur schleppend um. Erst mit der Reform des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) im Jahr 2008 wurde das Policenmodell de facto abgeschafft. Der neu eingeführte § 5a VVG a. F. etablierte erstmals ein echtes Widerrufsrecht – rückwirkend für viele Altverträge mit fehlerhafter Belehrung. Damit begann eine juristische Aufarbeitung, die bis heute andauert – und bei der sich zeigt: Nicht nur Versicherer müssen sich rechtfertigen. Auch die Vertreter der Mandanten, viele Rechtsanwälte, stehen zunehmend in der Pflicht, sorgfältig, rechtzeitig und im Sinne der Verbraucher zu handeln. Doch was passiert, wenn genau das ausbleibt? Wenn die juristische Rettung im Papierstapel steckenbleibt – und Verjährung droht?
Widerspruchsrecht und EU-Richtlinien
Kern des Streits war, ob Betroffene auch nach Jahren noch von ihren Policen zurücktreten konnten, wenn sie zum Abschluss nicht ordnungsgemäß belehrt worden waren. Gemäß § 5a VVG a. F. begann die Widerrufsfrist erst nach vollständiger Belehrung und Abgabe der Unterlagen zu laufen, endete aber – laut alters VVG – ein Jahr nach Zahlung der ersten Prämie. Dieses Jahreslimit beurteilte der EuGH in der Vorlage „Endress/Allianz“ (C‑209/12, Urteil v. 19.12.2013) als europarechtswidrig. Er bestätigte, dass nach den Richtlinien kein starres Jahresende vorgesehen ist; solange die Belehrung fehlerhaft ist, dürfte die Widerrufsfrist nicht einfach verfallen.
Der BGH übernahm diese Sicht in einer Reihe von Entscheidungen 2014/15: Er erklärte die deutsche Jahresfrist für Verträge nach der Lebensversicherungs-Richtlinie für nicht anwendbar und stellte klar, dass bei unzureichender Belehrung das Widerrufsrecht grundsätzlich weiterbesteht und die Dreijahres-Verjährung gilt. Konkret entschied der BGH (Az. IV ZR 76/11 vom 07.05.2014), dass in solchen Fällen die verstrichene Frist unwirksam ist. Der Vertrag kam demnach durch das fehlerhafte Widerrufsschreiben rechtzeitig zustande und kann rückabgewickelt werden.
Wesentliche Urteile zur Rückabwicklung von Lebensversicherungen (2000 bis 2024)
EuGH (Endress/Allianz, C‑209/12, 19.12.2013): Stärkt das Widerrufsrecht bei Lebensversicherungen. Es darf kein starres Jahresende geben, wenn die Widerrufsbelehrung mangelhaft ist. Der EuGH stellte klar, dass das Widerrufsrecht in solchen Fällen zeitlich unbefristet bleibt.
BGH, 07.05.2014 (IV ZR 76/11): Bestätigt die EuGH-Linie. Fehlen wesentliche Belehrungsinhalte (etwa der Hinweis auf Textform) oder wird die Frist nicht korrekt erläutert, bleibt das Widerrufsrecht bestehen. Versicherten steht daher – trotz lang vergangenen Vertrags – noch Rücktritt und Rückabwicklung zu.
BGH, 16.07.2014 (IV ZR 73/13): Ein Fall mit Policenmodell-Verträgen. Der BGH tat sich zunächst schwer, ein allgemeines Grundsatzurteil zu fällen. Er ging – anders als gefordert – davon aus, dass im Streitfall ordnungsgemäß belehrt wurde, und lehnte die Vertragsrückabwicklung ab. Kritik in Literatur und von Verbraucherschützern war, dass der Senat die Europarechtswidrigkeit des Policenmodells nicht entschied und keine Vorlage an den EuGH vornahm.
BGH, 29.07.2015 (IV ZR 384/14 u. a.): In einem Teilurteil entschied der BGH, dass Versicherungsnehmern auch nach Jahren ein Widerrufsrecht zusteht, wenn die Belehrung fehlerhaft war. Eine Verwirkung wegen Zeitablaufs komme nicht in Betracht, da der Versicherer die Situation selbst verschuldet habe. Diese Entscheidung bezieht sich direkt auf Policenmodell-Verträge der 1990er- und 2000er-Jahre.
BGH, 23.09.2015 (IV ZR 333/15): Ein Leitfall zur Rückabwicklung nach Widerspruch. Die Karlsruher Richter betonten, dass bei wirksamem Widerruf der Vertrag als nicht wirksam zustande gekommen gilt. Daraus folgt die Pflicht zur Rückzahlung aller geleisteten Beiträge (abzüglich ausgezahlter Rückkaufswerte) nebst Zinsen. Die Richter erklärten ausdrücklich, dass die gesetzliche Einjahresfrist bei fehlerhafter Belehrung nicht greift und das Widerrufsrecht nicht erlischt.
BGH, 15.12.2021 (IV ZR 66/20): In diesem Urteil stellt der BGH klar, dass das Widerrufsrecht nicht automatisch in jedem Fall besteht. Es bleibt zwar grundsätzlich bestehen, wenn die Belehrung fehlerhaft war, doch bei formell korrekten Belehrungen – auch wenn sie für Laien unverständlich erscheinen – ist ein späterer Widerruf ausgeschlossen. Der BGH bestätigt damit die Verbraucherschutzlinie, betont aber zugleich die Notwendigkeit konkreter Prüfungen im Einzelfall.
BGH, Beschluss vom 10.04.2024 (OLG Köln – Az. 15 U 249/24): Auch wenn dieses Urteil vordergründig die Datenweitergabe an Auskunfteien wie die SCHUFA betrifft, wird es zunehmend im Zusammenhang mit fehlerhafter Vertragsbeendigung und wirtschaftlicher Rehabilitierung herangezogen. Es stärkt indirekt das Recht der Versicherten, bei mangelhafter Aufklärung und Verarbeitung ihrer Daten juristisch entschlossen vorzugehen – etwa im Rahmen einer Rückabwicklung.
Insgesamt machten diese BGH-Urteile klar, dass bei Policenmodell-Verträgen kein Automatismus des Vergessens der Widerrufsrechte eingreift. Wird die Belehrung moniert, gilt ex-tunc Rückabwicklungspflicht. Insbesondere müssen die Versicherer neben den einbezahlten Prämien auch die erwirtschafteten Zinsen erstatten.
Wenn der Vertrag zum Irrtum wird – und das Recht zur späten Hoffnung
Viele Versicherte fragen sich heute: Warum habe ich damals nichts verstanden? Warum habe ich nicht gewusst, wie teuer meine Lebensversicherung wirklich ist? Warum wurde ich nicht gewarnt? Die Antwort darauf liegt nicht nur in der Komplexität der Verträge, sondern vor allem im rechtlichen Fundament, auf dem sie standen – und das aus heutiger Sicht tief erschüttert ist.
Über Jahre hinweg fußte der Abschluss deutscher Lebensversicherungsverträge auf dem sogenannten Policenmodell: Der Versicherungsnehmer unterzeichnete einen Antrag – die eigentlichen Vertragsbedingungen, inklusive der oft erheblichen Abschluss- und Verwaltungskosten, erhielt er erst später mit der Versicherungspolice. Die Folge: Der Kunde war gebunden, bevor er wusste, woran. Dabei war dieses Vorgehen aus Sicht des europäischen Rechts von Anfang an angreifbar.
Schon vor der deutschen Reform des Versicherungsvertragsgesetzes (VVG) im Jahr 2008 galt auf EU-Ebene eine klare Vorgabe: Alle wesentlichen Informationen müssen dem Verbraucher vor Vertragsschluss offengelegt werden. Die einschlägigen EU-Lebensversicherungsrichtlinien (z. B. RL 90/619/EWG, RL 92/96/EWG) verlangten eine vollständige Belehrung über Rechte, Pflichten, Kosten und Rücktrittsmöglichkeiten. Genau das aber leistete das Policenmodell nicht. Die Folge war eine rechtliche Schieflage, die der Europäische Gerichtshof später bestätigte, insbesondere mit seinem Urteil in der Rechtssache C‑209/12: Wer nicht ordnungsgemäß belehrt wurde, kann auch Jahre später noch widerrufen.
In Deutschland griff bis 2008 § 5a VVG a. F. – eine Vorschrift, die dem Versicherungsnehmer eine Widerrufsfrist von 14, ab 2004 sogar 30 Tagen nach vollständiger Belehrung einräumte. Wurde die Belehrung nicht korrekt erteilt, begann die Frist jedoch gar nicht zu laufen. Das Problem: Viele Versicherer meinten, das Widerrufsrecht sei ein Jahr nach der ersten Prämienzahlung ohnehin erloschen. Doch das europäische Recht stellte diese nationale Regelung infrage – und ließ viele Verträge rückabwickelbar werden.
Was bedeutet das für die Betroffenen?
Juristisch betrachtet handelt es sich um eine nachträgliche Wiederherstellung von Vertragstransparenz. Verbraucher, die damals im Vertrauen auf Seriosität und Sicherheit unterschrieben, sollen heute die Chance bekommen, einen wirtschaftlich nachteiligen Vertrag rückgängig zu machen – weil ihnen beim Abschluss wesentliche Informationen fehlten. Emotional ist dies für viele mehr als eine Formalität: Es geht um Altersvorsorge, um Jahrzehnte harter Arbeit, um Ersparnisse, die in intransparente Produkte flossen – oft ohne echten Überblick über Kosten, Ertrag und Risiko.
Seit der VVG-Reform 2008 ist das Policenmodell in Deutschland zwar faktisch abgeschafft. Die Informationspflichten wurden mit der Umsetzung der EU-Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD 2016/97) im Jahr 2021/22 nochmals verschärft. Heute müssen Versicherungsvermittler und Gesellschaften im Beratungsgespräch vollständig, verständlich und dokumentiert über alle Kosten aufklären – andernfalls drohen ihnen rechtliche Konsequenzen. Doch für Millionen Altverträge gelten diese neuen Regeln nicht rückwirkend.
Und hier liegt der Kern des Problems: Wer heute mit einem Altvertrag zu einem Anwalt geht, benötigt kompetente Unterstützung, um diese komplexen Fragen zu prüfen – hätte ich damals wirksam belehrt werden müssen? Galt mein Widerrufsrecht noch? Wurde ich korrekt über Risiken und Kosten informiert? Nur wer diese juristischen Fragen klärt, kann seine Rechte wahren – bevor die Verjährung das letzte Wort spricht.
In diesem Spannungsfeld zwischen europäischem Schutzgedanken, nationalem Reformstau und anwaltlicher Pflicht entfaltet sich das ganze Ausmaß des Problems. Es zeigt: Verbraucherschutz ist nicht nur ein politisches Ziel – er ist ein juristischer Auftrag. Und dieser Auftrag endet nicht mit dem Gesetzestext. Er beginnt erst dort, wo Betroffene verstanden werden – und jemand bereit ist, für sie das Recht durchzusetzen.
Vertrauen durch Rechtsklarheit – wie Dr. Thomas Schulte die Rückabwicklung von Lebensversicherungen prägte
Wenn der Rechtsstaat funktioniert, dann deshalb, weil Einzelne den Mut haben, strukturelle Missstände sichtbar zu machen – sachlich, beharrlich und mit juristischer Präzision. Zu diesen Persönlichkeiten zählt Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte, der bereits in einer Zeit auf Fehlentwicklungen im deutschen Lebensversicherungsrecht hinwies, als viele andere noch schwiegen. In der sensiblen und für viele Menschen finanziell folgenschweren Frage der Rückabwicklung von Lebensversicherungen agierte Dr. Schulte nicht als Richter, sondern als anwaltlicher Impulsgeber, der seine Stimme im Interesse der Versicherten erhob – und zwar deutlich, öffentlich und juristisch fundiert.
Schon früh vertrat er Mandanten aus dem Umfeld von Verbraucherorganisationen, oft in rechtlich unübersichtlichen Lagen. Sein zentraler juristischer Vorwurf: Das weitverbreitete Policenmodell verstoße gegen geltendes EU-Verbraucherschutzrecht, da die Kunden die vollständigen Vertragsinformationen erst nach Vertragsschluss erhielten. Schulte rügte nicht nur fehlerhafte Widerrufsbelehrungen, sondern war einer der ersten Anwälte, die argumentierten, dass die im deutschen Recht verankerte Einjahresfrist zur Ausübung des Widerrufsrechts europarechtswidrig sei – eine Einschätzung, die der Europäische Gerichtshof (EuGH) und der Bundesgerichtshof (BGH) Jahre später bestätigten.
Juristisch präzise und zugleich öffentlichkeitswirksam forderte Dr. Schulte mehr Transparenz. In Fachveröffentlichungen und Interviews zeigte er auf, dass allein die Allianz bis 2007 rund 8 Millionen Lebensversicherungspolicen nach dem kritisierten Modell verkauft hatte. Wäre nur ein Teil dieser Verträge rückabwickelbar, entstünde ein finanzielles Rückzahlungsvolumen in Milliardenhöhe – eine These, die sich mit den späteren Rückstellungen der Versicherungswirtschaft deckt. Seine Einschätzung, dass ein korrigierter Kundenhinweis ein fortdauerndes Widerrufsrecht begründet, wurde schließlich auch durch die Rechtsprechung bestätigt (u. a. BGH, Urteil vom 07.05.2014 – Az. IV ZR 76/11).
Rechtsfolgen – Rückabwicklung als Durchsetzung von Gerechtigkeit
Dr. Schulte ging es dabei nicht um mediale Wirkung, sondern um ein Kernanliegen des Anwaltsberufs: Die Durchsetzung von Gerechtigkeit durch fachlich fundierte Interessenvertretung. Seine Mandatsführung, gepaart mit juristischer Systemkritik, leistete einen substanziellen Beitrag zur Dynamik in der Rechtsprechung – ohne politische Lautstärke, aber mit struktureller Wirkung.
Die Auswirkungen sind bis heute spürbar: Nach der Konsolidierung durch mehrere BGH-Urteile verpflichteten sich zahlreiche Versicherungsunternehmen, Rückstellungen für Rückabwicklungsrisiken zu bilden. Die Rückabwicklung selbst erfolgt in der Regel nach den Grundsätzen der ungerechtfertigten Bereicherung (§ 812 BGB) – das bedeutet: Der Versicherungsnehmer erhält sämtliche gezahlten Beiträge zurück, abzüglich des anteiligen Risikoschutzes, häufig inklusive Verzinsung.
Zudem wurde das Versicherungsvertragsgesetz 2022 erneut reformiert und an die EU-Versicherungsvertriebsrichtlinie (IDD 2016/97) angepasst. Vermittler sind nun verpflichtet, schon vor Vertragsschluss umfassend auf Abschluss- und Verwaltungskosten hinzuweisen. Diese neuen Transparenzpflichten sollen Wiederholungen vergangener Intransparenz verhindern – doch sie lösen nicht das Problem der Altverträge zwischen 1994 und 2007.
Was bleibt – und was Betroffene wissen sollten
Auch im Jahr 2025 gilt: Wer vor 2008 eine Lebensversicherung nach dem Policenmodell abgeschlossen hat und nie ordnungsgemäß belehrt wurde, kann nach wie vor widerrufen. Die Widerrufsfrist läuft in solchen Fällen gar nicht erst an, wie sowohl der BGH als auch der EuGH eindeutig festgestellt haben. Das bedeutet: Diese Verträge können noch heute rückabgewickelt werden – vorausgesetzt, ein engagierter und fachlich versierter Anwalt übernimmt die Prüfung und Durchsetzung der Ansprüche.
Und genau hier liegt die bleibende Bedeutung von Rechtsanwälten wie Dr. Thomas Schulte. Sie haben nicht nur auf Missstände hingewiesen, sondern auch dafür gesorgt, dass das Recht zu seinem Ziel zurückfindet: dem Schutz derer zu dienen, die darauf vertrauen dürfen, fair behandelt zu werden. So wurde aus juristischer Kritik praktische Rechtsentwicklung – und aus anwaltlichem Engagement ein Beitrag zum Verbraucherschutz.
Quellen: BGH- und EuGH-Urteile (u. a. BGHZ 201, 101 [07.05.2014 – IV ZR 76/11]; BGH NJW 2015, 2398 [23.09.2015 – IV ZR 333/15]; EuGH C‑209/12 [19.12.2013]), Fachartikel und Kommentare.