Ein Verkehrsunfall im Ausland kann für deutsche Autofahrer viele rechtliche Fragen aufwerfen. Besonders relevant wird die Frage nach einem Schadenersatzanspruch bei einem Autounfall in Polen, einem beliebten Nachbarland, durch das viele deutsche Verkehrsteilnehmer regelmäßig fahren. Doch wie gestaltet sich die Rechtslage in solchen Fällen? Besteht ein Anspruch auf Schadenersatz, und welche Besonderheiten gilt es zu beachten?
Anwendbares Recht bei einem Unfall in Polen
Wenn sich ein Verkehrsunfall in Polen ereignet, ist das polnische Recht maßgeblich. Dies ergibt sich aus der Verordnung „Rom II“, die festlegt, dass das Recht des Landes, in dem der Unfall stattfindet, Anwendung findet. Somit greifen bei einem Verkehrsunfall in Polen die Vorschriften des polnischen Zivilrechts und des polnischen Pflichtversicherungsgesetzes.
Nach Artikel 19 Abs. 1 des polnischen Pflichtversicherungsgesetzes ist die Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers verpflichtet, den entstandenen Schaden zu ersetzen. Dies umfasst sowohl materielle Schäden (z.B. Reparaturkosten) als auch immaterielle Schäden, sofern diese nach polnischem Recht ersatzfähig sind. Die Anspruchsgrundlagen finden sich in den Artikeln 361, 415, 435 und 436 des polnischen Zivilgesetzbuches (ZGB). Diese Bestimmungen regeln die Schadenersatzpflicht bei unfallbedingten Schäden und die entsprechenden Rechtsfolgen.
Beispiel: Unfall in Polen und Schadenersatz
Stellen wir uns folgendes Szenario vor: Ein deutscher Autofahrer, Herr Meier, ist auf einer Urlaubsreise in Polen unterwegs. Während er an einer Kreuzung hält, wird sein Auto von einem polnischen Fahrzeug von hinten gerammt. Herr Meier erleidet erhebliche Schäden an seinem Fahrzeug und möchte diese ersetzt bekommen. Die polnische Versicherung des Unfallverursachers erkennt die Schuld ihres Versicherten an und bietet Herrn Meier eine Zahlung für die Reparaturkosten an. Doch Herr Meier verlangt nicht nur die Reparaturkosten, sondern auch eine Entschädigung für die Wertminderung seines Fahrzeugs, da sein Auto nach der Reparatur trotz einwandfreiem Zustand auf dem Gebrauchtwagenmarkt weniger wert ist. Außerdem möchte er die Kosten für die vorgerichtliche Rechtsberatung erstattet bekommen.
Anspruch auf Wertminderung und Rechtsanwaltskosten
Wie aus einem Urteil des Amtsgerichts Görlitz (Urteil vom 27.6.2024 (4 C 370/23) hervorgeht, hat Herr Meier gute Chancen, diese Ansprüche geltend zu machen. Das Gericht urteilte, dass nach polnischem Recht ein Anspruch auf die Erstattung der Wertminderung besteht, wenn das Fahrzeug nach dem Unfall an Wert verliert, obwohl es vollständig repariert wurde. Diese Wertminderung wird gemäß polnischem Zivilrecht als Teil des Schadens betrachtet und ist somit erstattungsfähig. Ein Gutachter schätzte in dem Fall des Amtsgerichts Görlitz den Wiederbeschaffungswert des Fahrzeugs auf 21.000 Euro, die Reparaturkosten auf 2.369,93 Euro und die Wertminderung auf 150 Euro. Das Gericht sprach dem Geschädigten die volle Wertminderung zu.
Ebenso entschied das Gericht, dass die Kosten für die anwaltliche Vertretung im vorgerichtlichen Verfahren erstattet werden müssen, wenn diese notwendig und vertretbar erscheinen. Nach polnischer Rechtsprechung, insbesondere nach einem Beschluss des Obersten Gerichts in Polen, ist dies der Fall, wenn der Geschädigte ohne anwaltliche Hilfe nicht in der Lage wäre, seine Ansprüche ordnungsgemäß geltend zu machen. Gerade bei grenzüberschreitenden Unfällen und unterschiedlichen Rechtsordnungen ist dies häufig der Fall.
Wichtige Aspekte der Schadensermittlung
Für die Bemessung der Schadenshöhe sind nach polnischem Recht die Gepflogenheiten am Wohnsitz des Geschädigten maßgeblich. Das bedeutet, dass unter anderem die Wertminderung eines Fahrzeugs nach den in Deutschland üblichen Standards ermittelt wird, wenn der Geschädigte in Deutschland wohnt. Die Haftpflichtversicherung des polnischen Unfallverursachers muss sich also an den deutschen Gepflogenheiten orientieren, selbst wenn der Unfall in Polen stattgefunden hat.
Ein weiteres Urteil des Bezirksgerichts Lodz (Az. III Ca 989/18) verdeutlichte, dass die „Anweisung zur Bestimmung des Marktverlustes von Fahrzeugen Nr. 1/2009“, welche vom Verband der Kfz-Gutachter in Polen verwendet wird, nicht zwingend bindend ist. Es kommt vielmehr auf die tatsächlichen Gepflogenheiten an, die am Wohnsitz des Geschädigten gelten. Diese Entscheidung stärkt die Position von Geschädigten, die ihren Schaden in Deutschland geltend machen möchten, selbst wenn der Unfall in Polen stattfand.
Beispielhafte Entscheidung des Amtsgerichts Görlitz
Das Amtsgericht Görlitz hatte in einem vergleichbaren Fall zu entscheiden, in dem die polnische Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers den Anspruch auf Wertminderung abgelehnt hatte. Das Gericht stellte klar, dass nach polnischem Recht ein Anspruch auf Wertminderung besteht und dieser nicht durch die Richtlinien des polnischen Kfz-Gutsachterverbands eingeschränkt werden kann. Es sprach dem Geschädigten die geforderte Wertminderung sowie die vorgerichtlichen Anwaltskosten zu.
Die Beklagte konnte nicht substantiiert darlegen, dass die von ihr verwendete Anweisung zur Wertminderung vom polnischen Obersten Gericht anerkannt wird. Stattdessen folgte das Gericht der Entscheidung des Bezirksgerichts Lodz, welches feststellte, dass die Anweisung des Gutachterverbands nicht bindend ist und die Gepflogenheiten am Wohnsitz des Geschädigten entscheidend sind.