Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 4. Juni 2024 (Az. VI ZR 374/23) klärt eine häufig auftretende Frage im Straßenverkehrsrecht: Wie ist die Haftung zu verteilen, wenn es zu einem Unfall zwischen einem ausfahrenden Fahrzeug und einem vorfahrtsberechtigten Verkehrsteilnehmer kommt? Besonders interessant ist das Urteil, weil es sich mit der sogenannten „Lückenrechtsprechung“ auseinandersetzt. Diese Rechtsprechung besagt, dass ein Vorfahrtsberechtigter bei der Annäherung an eine Lücke in einer Kolonne besonders vorsichtig fahren muss, da von dort mit Querverkehr zu rechnen ist. Der BGH entschied jedoch, dass diese Regelung in einem Fall, bei dem lediglich ein in zweiter Reihe stehender Lkw umfahren wurde, nicht greift.
Sachverhalt: Kollision beim Vorbeifahren an einem stehenden Lkw
Im vorliegenden Fall befuhr der Beklagte zu 1 am 22. Juli 2021 gegen 17:30 Uhr mit seinem Pkw eine einspurige Straße, die in beide Fahrtrichtungen befahren werden kann. Am rechten Fahrbahnrand, unmittelbar vor einer Einfahrt, stand ein Lkw in zweiter Reihe. Der Beklagte zu 1 fuhr, da kein Gegenverkehr herrschte, links an dem Lkw vorbei, indem er die Gegenfahrbahn mitbenutzte. Der Kläger hatte sein Fahrzeug zuvor auf einem Parkplatz am rechten Fahrbahnrand abgestellt und wollte von dort aus auf die gegenüberliegende Seite der Straße umparken. Dabei kollidierten die beiden Fahrzeuge auf Höhe der Einfahrt.
Das Landgericht gab der Klage teilweise statt und legte eine Mitverschuldenquote von 75 Prozent zulasten des Klägers fest. Das Oberlandesgericht änderte das Urteil jedoch ab und wies die Klage vollständig ab. Der Kläger legte Revision ein, die vom BGH zurückgewiesen wurde.
Rechtliche Begründung des BGH: Keine Anwendung der Lückenrechtsprechung
Der BGH prüfte zunächst die Haftungsverteilung gemäß § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1 StVG in Verbindung mit § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG. Das Gericht entschied, dass dem Kläger ein Verstoß gegen § 9 Abs. 5 und § 10 StVO vorzuwerfen sei. Gemäß diesen Vorschriften muss der Fahrer eines Fahrzeugs beim Wenden (§ 9 Abs. 5 StVO) sowie beim Einfahren aus einem Grundstück oder vom Fahrbahnrand (§ 10 StVO) besonders vorsichtig vorgehen und die Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausschließen.
Der Kläger fuhr aus einem Längsparkplatz und anschließend über eine Grundstückseinfahrt auf die Fahrbahn zurück, wobei er mit dem Beklagten kollidierte, der gerade den in zweiter Reihe stehenden Lkw umfuhr. Nach Ansicht des BGH hat der Kläger damit gegen das Vorfahrtsrecht des Beklagten verstoßen, was durch den sogenannten Anscheinsbeweis indiziert wird. Ein Anscheinsbeweis bedeutet, dass in einer typischen Situation – wie hier, das Einfahren in den fließenden Verkehr – ein Verschulden des Einfahrenden vermutet wird, sofern keine entlastenden Umstände vorliegen. Der Kläger konnte diesen Anscheinsbeweis nicht erschüttern.
Besonders interessant ist die Frage, ob der Beklagte zu 1 gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot gemäß § 1 Abs. 2 StVO verstoßen hat, indem er nach dem Umfahren des Lkw wieder einscherte. Der BGH entschied, dass dies nicht der Fall war, da keine konkreten Anzeichen dafür bestanden, dass der Kläger seine Vorfahrt missachten könnte. Der Vorfahrtsberechtigte darf im fließenden Verkehr darauf vertrauen, dass andere Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachten, es sei denn, konkrete Anzeichen für eine Missachtung liegen vor.
Die Lückenrechtsprechung und ihre Grenzen
Die sogenannte Lückenrechtsprechung wurde von der Klägerseite angeführt, um zu argumentieren, dass der Beklagte zu 1 beim Vorbeifahren an dem Lkw besondere Vorsicht hätte walten lassen müssen. Diese Rechtsprechung besagt, dass ein vorfahrtsberechtigter Verkehrsteilnehmer beim Überholen einer Kolonne nicht uneingeschränkt auf seine Vorfahrt vertrauen darf. Wenn sich eine Lücke in der Kolonne auftut, muss der Vorfahrtsberechtigte besonders vorsichtig sein, da ein anderes Fahrzeug diese Lücke nutzen könnte, um in den Querverkehr einzufahren.
Der BGH stellte jedoch klar, dass diese Lückenrechtsprechung in dem vorliegenden Fall nicht anwendbar ist. Die Lückenrechtsprechung gilt nur dann, wenn ein Verkehrsteilnehmer an einer Kolonne vorbeifährt, die aufgrund von Stockungen angehalten hat. In solchen Situationen muss der Fahrer mit Querverkehr rechnen, der die Lücke nutzt. Im vorliegenden Fall handelte es sich jedoch nicht um eine stockende Kolonne, sondern lediglich um einen in zweiter Reihe stehenden Lkw. Der BGH entschied, dass allein das Vorbeifahren an einem geparkten Fahrzeug nicht dazu führt, dass der Vorfahrtsberechtigte zusätzliche Sorgfaltspflichten beachten muss.
Beispiel aus der Praxis: Ein ähnlicher Fall
Um die Entscheidung des BGH besser zu verdeutlichen, stellen wir uns folgendes Szenario vor:
Herr Schmied fährt auf einer einspurigen Straße, auf der in beide Richtungen gefahren werden darf. Vor ihm steht ein Lkw in zweiter Reihe, der die Sicht auf eine Ausfahrt blockiert. Herr Schmied fährt links an dem Lkw vorbei, da zu diesem Zeitpunkt kein Gegenverkehr herrscht. Zur gleichen Zeit fährt Frau Fischer, die auf einem Parkplatz hinter dem Lkw stand, von ihrem Parkplatz auf die Fahrbahn, um in die entgegengesetzte Richtung zu fahren. Dabei kollidieren die beiden Fahrzeuge.
In diesem Fall gilt das Vorfahrtsrecht für Herrn Schmied, der sich bereits im fließenden Verkehr befindet. Frau Fischer hätte gemäß § 10 StVO sicherstellen müssen, dass sie keine anderen Verkehrsteilnehmer gefährdet, bevor sie in den fließenden Verkehr einfährt. Der Anscheinsbeweis spricht in einem solchen Fall gegen Frau Fischer, da sie aus einer untergeordneten Position in den Verkehr einfährt und dabei das Vorfahrtsrecht von Herrn Schmied missachtet.
Die Konsequenzen für die Haftungsverteilung
In dem besprochenen BGH-Urteil wurde entschieden, dass der Kläger die Hauptschuld an dem Unfall trägt, da er gegen die Vorschriften des § 9 Abs. 5 und § 10 StVO verstoßen hat. Der Beklagte zu 1, der im fließenden Verkehr unterwegs war, traf kein Verschulden. Der BGH stellte klar, dass der Kläger für die Unfallfolgen haften muss, da er das Vorfahrtsrecht des Beklagten missachtet hat und keine entlastenden Umstände nachweisen konnte.
Der BGH entschied ferner, dass die Lückenrechtsprechung in solchen Fällen keine Anwendung findet. Die besondere Sorgfaltspflicht, die bei der Lückenbildung in einer stockenden Kolonne gilt, besteht nicht, wenn lediglich ein einzelnes Fahrzeug in zweiter Reihe steht. Der vorfahrtsberechtigte Verkehrsteilnehmer darf in solchen Fällen darauf vertrauen, dass andere Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht beachten.
Fazit: Ein wichtiges Urteil für die Praxis
Das Urteil des BGH vom 4. Juni 2024 bringt Klarheit in die Frage, wann die Lückenrechtsprechung im Straßenverkehr angewendet werden muss. Es zeigt, dass der Vorfahrtsberechtigte beim Vorbeifahren an einem in zweiter Reihe stehenden Fahrzeug grundsätzlich auf sein Vorfahrtsrecht vertrauen darf. Die Lückenrechtsprechung, die besondere Vorsicht bei der Annäherung an Lücken in einer Kolonne verlangt, greift in solchen Fällen nicht.
Für Verkehrsteilnehmer bedeutet dies, dass sie beim Einfahren in den fließenden Verkehr immer besonders vorsichtig sein müssen, insbesondere wenn ihre Sicht durch geparkte Fahrzeuge eingeschränkt ist. Der Vorfahrtsberechtigte hat hingegen das Recht, darauf zu vertrauen, dass andere Verkehrsteilnehmer sein Vorfahrtsrecht respektieren, es sei denn, es gibt konkrete Anzeichen für eine bevorstehende Vorfahrtsverletzung.