Am 12. März 2024 fällte der Bundesgerichtshof (BGH) ein Urteil, das für alle Verkehrsunfallgeschädigten von großer Bedeutung ist (BGH-Urteil vom 12.3.2024 – VI ZR 280/22): Es ging um die Frage, ob überhöhte Sachverständigenkosten nach einem Verkehrsunfall vom Geschädigten ersetzt werden müssen. Der BGH entschied, dass unter bestimmten Umständen auch überhöhte Kosten eines Kfz-Sachverständigen erstattet werden können, wenn sie für den Geschädigten nicht ohne weiteres erkennbar waren.
Dieses Urteil betrifft vor allem Situationen, in denen nach einem Verkehrsunfall ein Sachverständiger mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt wird, um den Schaden am Fahrzeug zu ermitteln. Dabei entstehen Kosten, die vom Schädiger bzw. dessen Versicherung ersetzt werden müssen. Doch was passiert, wenn diese Kosten unangemessen hoch sind? Das Urteil gibt Aufschluss über die Rechte und Pflichten von Geschädigten in solchen Fällen.
Der Fall im Detail
Im zugrundeliegenden Fall hatte ein Geschädigter nach einem Verkehrsunfall im März 2021 einen Sachverständigen mit der Begutachtung seines beschädigten Fahrzeugs beauftragt. Die Kosten für dieses Gutachten wurden von der gegnerischen Versicherung weitestgehend übernommen, allerdings verweigerte die Versicherung die Zahlung eines Zuschlags in Höhe von 20 Euro, der im Zusammenhang mit „Schutzmaßnahmen Corona“ erhoben wurde. Dieser Zuschlag umfasste Kosten für Desinfektionsmittel, Einmalhandschuhe und andere Hygienemaßnahmen.
Der Fall ging durch mehrere Instanzen, bevor er vor dem BGH landete. Die Vorinstanzen hatten die Klage abgewiesen, da sie keinen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Erforderlichkeit der Schutzmaßnahmen sahen. Der BGH hingegen entschied anders und gab der Klägerin in wesentlichen Punkten recht.
Was bedeutet dieses Urteil für Geschädigte?
Das Urteil des BGH verdeutlicht, dass Sachverständigenkosten grundsätzlich als Teil des Schadensersatzes erstattungsfähig sind, sofern sie im Kontext der Schadensregulierung erforderlich und zweckmäßig sind. Diese Regelung basiert auf § 249 BGB, der den Schadensersatz bei Sachbeschädigung regelt. Geschädigte können danach entweder die Wiederherstellung der beschädigten Sache oder den dafür notwendigen Geldbetrag verlangen.
Im konkreten Fall entschied der BGH, dass auch die Kosten für Corona-Schutzmaßnahmen wie Desinfektion und Einmalhandschuhe unter bestimmten Umständen zu erstatten sind. Dies gilt vor allem dann, wenn die Schutzmaßnahmen während der Corona-Pandemie notwendig und angemessen waren. Der BGH betonte hierbei, dass einem Sachverständigen als Unternehmer ein gewisser Ermessensspielraum bei der Umsetzung von Hygienemaßnahmen zusteht. Diese Entscheidungsspielräume müssen nicht immer im Detail vom Auftraggeber überprüft werden, was für den Geschädigten eine Erleichterung darstellt.
Das „Werkstattrisiko“ und seine Übertragung auf Sachverständigenkosten
Ein zentrales Thema in diesem Urteil ist das sogenannte „Werkstattrisiko“, das der BGH bereits in früheren Urteilen behandelt hat. Das Werkstattrisiko besagt, dass der Geschädigte die Kosten einer Werkstatt nicht vollständig kontrollieren kann, wenn er sein Fahrzeug zur Reparatur gibt. Selbst wenn die Werkstatt überhöhte Preise verlangt oder ineffizient arbeitet, bleibt der Schädiger in der Regel zur Übernahme der Kosten verpflichtet, solange der Geschädigte die Werkstatt sorgfältig ausgewählt hat und ihm kein Auswahlverschulden vorgeworfen werden kann.
Der BGH hat dieses Prinzip auf Sachverständigenkosten übertragen. Das bedeutet, dass auch dann, wenn ein Kfz-Sachverständiger zu hohe Honorare verlangt oder Nebenkosten übermäßig ansetzt, der Geschädigte nicht automatisch auf den Kosten sitzen bleibt. Entscheidend ist, dass der Geschädigte die Höhe der Kosten im Voraus nicht erkennen konnte und keine Verpflichtung hatte, den Markt nach günstigeren Alternativen zu durchsuchen.
Pflichten des Geschädigten: Was muss er beachten?
Das Urteil verdeutlicht aber auch, dass der Geschädigte gewisse Pflichten hat. So muss er beispielsweise bei der Auswahl des Sachverständigen eine gewisse Sorgfalt walten lassen. Ist für den Geschädigten erkennbar, dass die Preise des Sachverständigen überhöht sind, kann er nicht einfach den teuersten Anbieter wählen und die Kosten anschließend vollständig beim Schädiger geltend machen.
Zudem trifft den Geschädigten eine sogenannte Plausibilitätskontrolle: Wenn der Sachverständige ungewöhnlich hohe Nebenkosten abrechnet, muss der Geschädigte die Rechnung überprüfen und gegebenenfalls nachfragen. Verweigert der Sachverständige eine detaillierte Auskunft oder legt keine nachvollziehbare Kalkulation vor, könnte dies dazu führen, dass die entsprechenden Kosten nicht als erforderlich angesehen werden und somit nicht erstattungsfähig sind.
Das „Sachverständigenrisiko“ und dessen Grenzen
Ein weiterer wichtiger Punkt des Urteils betrifft das sogenannte „Sachverständigenrisiko“. Wenn der Geschädigte die Rechnung des Sachverständigen bis jetzt nicht bezahlt hat, kann er die Zahlung der Kosten durch den Schädiger nur unter der Bedingung verlangen, dass der Sachverständige im Gegenzug etwaige Ansprüche des Geschädigten gegen ihn (z.B. wegen überhöhter Honorare) abtritt. Dies soll sicherstellen, dass der Geschädigte nicht für unangemessene Kosten haftet.
Wählt der Geschädigte jedoch die Option, dass der Schädiger direkt an ihn zahlt, so trägt er das Risiko, dass die Kosten des Sachverständigen zu hoch angesetzt sind. In diesem Fall muss der Geschädigte nachweisen, dass die abgerechneten Maßnahmen tatsächlich durchgeführt wurden und angemessen waren.
Fazit: Was bedeutet das Urteil für die Praxis?
Das BGH-Urteil vom 12. März 2024 hat weitreichende Folgen für die Schadensregulierung nach Verkehrsunfällen. Geschädigte haben zwar das Recht, einen Sachverständigen ihrer Wahl zu beauftragen, müssen aber gleichzeitig eine gewisse Sorgfalt bei der Auswahl und Überprüfung der Kosten walten lassen. Überhöhte Sachverständigenkosten können erstattet werden, wenn sie für den Geschädigten nicht offensichtlich erkennbar waren und im Rahmen der Schadensregulierung erforderlich waren.
Dieses Urteil schafft Klarheit darüber, welche Kosten der Schädiger bzw. dessen Versicherung zu tragen hat, und stärkt die Position der Geschädigten. Es zeigt aber auch, dass Geschädigte nicht uneingeschränkt jeden Sachverständigenauftrag erteilen und die Kosten auf den Schädiger abwälzen können. Wer sicherstellen möchte, dass seine Ansprüche vollständig durchgesetzt werden, sollte daher im Zweifelsfall rechtlichen Rat einholen.