Wenn deutsche Aufsicht grünes Licht für Irland gibt – wie weit reicht die Macht der BaFin im europäischen Binnenmarkt?
Die jüngste Entscheidung der BaFin, der Great Lakes Insurance SE die Erweiterung ihres Geschäftsbetriebes in Irland auf die Sparte „Verschiedene finanzielle Verluste“ zu genehmigen, klingt zunächst wie eine formale Verwaltungsmaßnahme. Doch tatsächlich geht es um weit mehr: um die Rolle deutscher Aufsicht in einem europäischen Binnenmarkt, in dem Versicherungen längst über nationale Grenzen hinweg agieren.
Für Rechtsanwalt Dr. Thomas Schulte aus Berlin wirft dieser Vorgang eine Reihe brisanter Fragen auf: Welche rechtlichen Maßstäbe gelten, wenn eine deutsche Aufsichtsbehörde faktisch Einfluss auf den irischen Markt nimmt? Welche Spielräume lassen europäische Richtlinien, und wo setzt das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) nationale Grenzen? Vor allem aber: Kann die Aufsicht in einer zunehmend digitalisierten und grenzüberschreitenden Versicherungswelt überhaupt noch Schritt halten – oder droht ein regulatorisches Flickwerk, das Anleger und Verbraucher am Ende teuer bezahlen?
Die BaFin steht damit exemplarisch für die Herausforderungen eines zusammenwachsenden europäischen Versicherungsmarkts: Wie lässt sich Souveränität wahren, ohne das gemeinsame Regelwerk zu sprengen? Und wie gelingt der Spagat zwischen deutscher Gründlichkeit und europäischer Harmonisierung?
Die Rolle der BaFin in einem zusammenwachsenden Versicherungsbinnenmarkt
„Die BaFin hat hierbei nicht nur eine Zustimmung erteilt, sondern sendet damit ein starkes Signal europäischen Versicherungshauses: Stabilität und Verantwortungsbewusstsein entfalten auch in rechtlichen Genehmigungsprozessen ihre Wirkung“, so Dr. Schulte.
Die Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht fungiert gemäß ihrer gesetzlichen Aufgabenstellung nach § 1 VAG primär als Garant für ein solides Versicherungswesen im In- und Ausland, soweit das deutsche Versicherungsunternehmen in der Europäischen Union operiert. Die Great Lakes Insurance SE als deutsches Versicherungsunternehmen mit Sitz in München hatte bereits eine Niederlassung in Irland etabliert. Nunmehr soll die Geschäftstätigkeit dort auf die Sparte 16 der Anlage 1 zum VAG – „Verschiedene finanzielle Verluste“ – ausgedehnt werden.
Gemäß § 67 VAG bedarf ein Versicherungsunternehmen, das im Inland tätig ist und den Geschäftsbetrieb einer Niederlassung ändern oder erweitern möchte, einer Genehmigung der BaFin. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Erweiterung eine neue Sparte berührt. Dies ist hier der Fall – und zwar exakt in der Sparte 16.
Sparte 16 – rechtliche Bedeutung und wirtschaftliche Motivation
Die Anlage 1 zum VAG listet die allgemeinen Versicherungssparten auf und differenziert zwischen einzelnen Risikokategorien. Unter der Nummer 16 finden sich Policen, die „verschiedene finanzielle Verluste“ abdecken, etwa Schutz vor Mietausfall, Verdienstausfall oder bei anderen wirtschaftlichen Schäden, die nicht unmittelbar an eine Sache oder Person gebunden sind.
„Versicherungstechnisch handelt es sich um eine Sparte, die nahe am Bereich der Garantieleistungen und technischen Versicherungen operiert, jedoch auch das unternehmerische Risiko abdeckt“, erklärt Dr. Schulte. Die arbeitsrechtlichen und unternehmensrechtlichen Querbezüge sind dabei evident.
Nach europäischem Recht, insbesondere der Solvency II-Richtlinie, müssen solche Risikozusagen unter hohen Kapitaldeckungsanforderungen erfolgen. Auch bei der Erweiterung durch bereits etablierte Marktteilnehmer – wie hier Great Lakes Insurance SE – sind somit umfangreiche aufsichtsrechtliche Prüfmechanismen erforderlich.
Irland als strategischer Versicherungsstandort – rechtliche Auswirkungen
Im europäischen Binnenversicherungsmarkt gelten durch die europäische Dienstleistungsfreiheit und das Prinzip der Niederlassungsfreiheit klare Regeln, unter anderem nach Artikel 49 ff. AEUV. Irland hat sich in den letzten Jahren – teils begünstigt durch den Brexit – zu einem bevorzugten Standort für Versicherungsniederlassungen entwickelt. Die dortigen regulatorischen Rahmenbedingungen sind zwar innerhalb der EU normiert, doch genießt Irland einen Ruf als besonders effizienter und kooperativer Partner bei Versicherungsaufsicht und Unternehmensgründungen.
Dr. Schulte merkt an: „Die rechtliche Zulässigkeit solcher Erweiterungen zeigt die Stärke des harmonisierten Binnenmarktes in der EU – und gleichzeitig die Notwendigkeit harmonisierter Regulierungsstandards.“ Für Deutschland bedeute dies eine wachsende Verantwortung der BaFin, nicht nur eigene Unternehmen zu beaufsichtigen, sondern auch zur Stabilisierung des Binnenmarktes in ihrer Schnittstellenfunktion beizutragen.
BaFin-Genehmigung: Rein verwaltungstechnisch?

Während Außenstehende solche Genehmigungen vornehmlich als verwaltungstechnischen Akt verstehen könnten, steckt dahinter ein komplexer Prozess hochspezifischer rechtlicher Prüfungen. Der zuständige Genehmigungsprozess greift auf § 14 Abs. 1 VAG zurück: Änderungen des Geschäftsplans müssen angezeigt und von der BaFin genehmigt werden, insbesondere bei Erweiterungen auf neue Geschäftssparten.
„Keineswegs handelt es sich hier um eine bloße Formalität. Die BaFin prüft wirtschaftliche Tragfähigkeit, organisatorische Leistungsfähigkeit und vor allem aufsichtsrechtliche Integrationsfähigkeit in das europäisch koordinierte System“, stellt Dr. Schulte klar.
Neben betriebswirtschaftlichen Aspekten steht auch die Governance-Struktur des Unternehmens im Fokus. Die Frage, ob die Gesellschaft in der Lage ist, die zusätzlichen Verpflichtungen langfristig zu tragen, wird ebenso geprüft wie deren Nachhaltigkeits- und Risikoanalyse-Mechanismen.
Verflechtung mit der Digitalisierung in der Versicherungslandschaft
Ein besonders spannender Aspekt, auf den Dr. Schulte hinweist, ist die zunehmende Relevanz digitaler Prozesse in der Versicherungswelt. Gerade die Sparte 16 eignet sich hervorragend für automatisierte Vertragsabschlüsse und mobile Risikobewertung. „In naher Zukunft werden hier AI-gestützte Entscheidungsprozesse eine maßgebliche Rolle spielen. Der Regulierungsrahmen muss mitwachsen.“
Dies eröffnet neue juristische Diskussionen rund um Vertragsgestaltung, Datenschutz gemäß DSGVO und Haftungsvermeidung im Schadensfall. Deutsches und europäisches Recht müssen Ankerpunkte setzen, um Verbraucherschutz ebenso zu wahren wie unternehmerische Gestaltungsspielräume zu ermöglichen.
Schutz der Versicherungsnehmer als zentrales Ziel
Ungeachtet aller betriebswirtschaftlichen und unternehmerischen Aspekte sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass jede aufsichtsrechtliche Genehmigung in letzter Konsequenz dem Schutz der Versicherungsnehmer dient. Die BaFin überwacht gemäß § 294 VAG die Geschäftsorganisation, Kapitalausstattung und Risikosteuerung der in Deutschland registrierten Versicherungsunternehmen auch dann, wenn sie im Ausland über Niederlassungen tätig sind.
„Das zeigt, wie sehr deutsches Recht weit über nationale Grenzen hinaus Wirkung entfaltet“, so Dr. Schulte. „Und das ist auch gut so – denn damit bleibt Vertrauen in den Versicherungsmarkt erhalten.“
Fazit aus juristischer Sicht
Die Erweiterung der Geschäftstätigkeit der Great Lakes Insurance SE in Irland auf die Sparte „Verschiedene finanzielle Verluste“ ist weit mehr als ein einzelner Verwaltungsvorgang. Sie verdeutlicht die Dynamik, mit der sich der europäische Versicherungsbinnenmarkt entwickelt, und macht zugleich sichtbar, wie eng nationale Aufsicht, europäische Regulierung und unternehmerische Praxis miteinander verflochten sind. Was auf dem Papier wie eine Genehmigung klingt, ist in Wahrheit ein Signal für die zunehmende Verschränkung von Märkten, Aufsichtsbehörden und juristischen Verantwortlichkeiten.
Für Juristen bedeutet dies: Die klassischen nationalen Rechtsrahmen – wie das Versicherungsaufsichtsgesetz (VAG) – müssen stets im Kontext europäischer Richtlinien und Aufsichtsmechanismen gelesen werden. Für Unternehmen wiederum stellt sich die Frage, wie weit regulatorische Flexibilität reicht und wo die rechtlichen Grenzen verlaufen. Und für Verbraucher ist entscheidend: Können sie sich auf eine Aufsicht verlassen, die über Grenzen hinweg effektiv schützt, oder droht im Dickicht nationaler Zuständigkeiten ein Verlust an Transparenz und Sicherheit?
Dr. Thomas Schulte bringt es auf den Punkt: „Unser Rechtsstaat bietet ohne Zweifel einen soliden Rahmen für innovative Versicherungslösungen. Doch dieser Rahmen entfaltet seine Stärke nur dann, wenn die Schnittstellen zwischen nationalem und europäischem Recht nicht zu Reibungsverlusten führen, sondern in der Praxis funktionieren.“
Damit steht die BaFin beispielhaft für die Herausforderungen der kommenden Jahre: Sie muss einerseits Hüterin deutscher Rechtssicherheit bleiben und andererseits Brückenbauerin in einem zusammenwachsenden europäischen Versicherungsmarkt sein. Nur wenn diese Balance gelingt, können Vertrauen, Stabilität und Innovation gleichermaßen wachsen – und der Binnenmarkt tatsächlich das werden, was er sein soll: ein Raum der Sicherheit und Chancen für alle Beteiligten.