Abgrenzung und rechtliche Bewertung, von Valentin Schulte, stud. iur. bei der Rechtsanwaltskanzlei Dr. Thomas Schulte, Berlin.
Im Alltag treten an Fahrzeugen immer wieder kleinere Beschädigungen auf, die oftmals als „normale Gebrauchsspuren“ bezeichnet werden. Solche Schäden können beispielsweise durch das Ein- und Ausladen von Gegenständen, leichte Parkrempler oder die Nutzung des Fahrzeugs im Straßenverkehr (Steinschlag) entstehen. Diese Gebrauchsspuren sind in der Regel bloß optischer Natur und beeinträchtigen die Funktionalität des Fahrzeugs nicht. Eine zentrale Frage bei der Schadensregulierung nach einem Verkehrsunfall ist daher, ob ein bestehender Schaden als normale Gebrauchsspur oder als relevanter Vorschaden einzustufen ist. Dies kann entscheidend für die Höhe des zu leistenden Schadensersatzes sein, insbesondere wenn es um die Reparatur eines zerkratzten Stoßfängers geht.
Gebrauchsspuren vs. Vorschaden
Definition und Unterscheidung
Bei der Beurteilung, ob es sich um normale Gebrauchsspuren oder einen relevanten Vorschaden handelt, spielt das Ausmaß des Schadens eine wesentliche Rolle. Gebrauchsspuren sind im Alltag eines Fahrzeugs fast unvermeidbar und umfassen Kratzer, kleinere Dellen oder Lackabnutzungen, die durch die normale Nutzung entstehen. Sie haben, so die Rechtsprechung des OLG Hamm (Urteil vom 28.6.2022 – 7 U 45/21), keine Auswirkungen auf die Funktionalität des Fahrzeugs und führen nicht zu einem wirtschaftlichen Nachteil des Fahrzeughalters.
Ein Vorschaden hingegen bezeichnet eine Beschädigung, die über die normale Nutzung hinausgeht und bereits vor einem Unfallereignis vorlag. Vorschäden müssen abgrenzbar sein und können unter Umständen die Höhe des ersatzfähigen Schadens beeinflussen. Ein solcher Vorschaden liegt dann vor, wenn der Schaden bereits in einer früheren Kollision oder einem anderen Ereignis entstanden ist, das nichts mit dem aktuellen Unfall zu tun hat.
Optische Gebrauchsspuren als unerheblicher Vorschaden
Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hat in einem Fall klargestellt, dass eine bloße optische Beschädigung des Stoßfängers durch alltägliche Nutzung als normale Gebrauchsspur anzusehen ist und nicht zu einer Reduzierung des Schadensersatzes führt. Dies gilt insbesondere, wenn die Kratzspuren keine Auswirkungen auf die Funktionalität des Bauteils haben. Ein Abzug „neu für alt“ ist nach § 249 BGB in solchen Fällen ebenfalls nicht vorzunehmen, es sei denn, der Geschädigte erlangt einen wirtschaftlichen Vorteil durch die Reparatur, der eine Vermögensvermehrung darstellt. Die Beweislast hierfür trägt der Schädiger.
Im konkreten Fall urteilte das OLG Hamm, dass die Kratzer am Stoßfänger keine nennenswerte Wertminderung darstellen und die Reparaturkosten in voller Höhe zu ersetzen seien, selbst wenn die Kratzer im Zuge der Reparatur mit behoben wurden.
Vorschäden und ihre Auswirkungen auf die Schadensregulierung
Grundsätze der Vorteilsausgleichung
Bei der Schadensregulierung kommt es immer wieder vor, dass ein Stoßfänger bereits vor einem Unfallereignis beschädigt war. In solchen Fällen stellt sich die Frage, in welchem Umfang der Unfallgegner für die Reparaturkosten haftet. Das OLG Stuttgart (Urteil vom 16.2.2023 – 2 U 226/21) hat hierzu ausgeführt, dass die Kosten der Reparatur nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung aufgeteilt werden können, wenn durch die Reparatur auch Vorschäden beseitigt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Reparaturmaßnahmen sowohl für die Beseitigung des Unfallschadens als auch des Vorschadens notwendig sind.
Der Grundsatz der Vorteilsausgleichung besagt, dass der Geschädigte nicht besser gestellt werden darf, als er vor dem Schadensereignis war. Wenn durch die Reparatur nicht nur der Unfallschaden, sondern auch ein vorhandener Vorschaden behoben wird, ist eine Anrechnung des Vorteils zulässig. Das OLG Stuttgart entschied, dass bei einer Reparatur, die sowohl unfallbedingte als auch nicht unfallbedingte Schäden behebt, die Reparaturkosten anteilig zu verteilen sind.
Beweislastverteilung und Darlegungspflichten
Die Darlegung eines Vorschadens und dessen Abgrenzung vom Unfallschaden obliegt grundsätzlich dem Geschädigten. Dieser muss nachweisen, dass die aktuellen Schäden durch das Unfallereignis verursacht wurden und nicht auf einen vorherigen Schaden zurückzuführen sind. Dies gilt vornehmlich, wenn der Schädiger oder dessen Versicherung die Ersatzfähigkeit des Schadens bestreitet, weil ein Vorschaden vorliegen könnte.
Im vorliegenden Fall des OLG Hamm wurde festgestellt, dass die Kratzspuren auf dem Stoßfänger des Fahrzeugs als Gebrauchsspuren einzustufen seien. Da sie keinen Einfluss auf die Funktionalität des Stoßfängers hatten, war ein Vorschaden im rechtlichen Sinne nicht gegeben. Der Schaden war vollständig auf das aktuelle Unfallereignis zurückzuführen, und die Reparaturkosten wurden in voller Höhe erstattet.
Beispiel: Zerkratzter Stoßfänger nach Parkrempler
Ein anschauliches Beispiel soll die Problematik verdeutlichen. Herr Müller fährt mit seinem Auto auf einem öffentlichen Parkplatz und streift beim Einparken leicht das nebenstehende Fahrzeug von Frau Schmidt. Dabei entsteht ein Kratzer am Stoßfänger von Frau Schmidts Fahrzeug. Der Stoßfänger war jedoch bereits vor dem Unfall durch mehrere kleinere Kratzer aus dem alltäglichen Gebrauch gezeichnet.
Herr Müller meldet den Schaden seiner Haftpflichtversicherung. Diese beauftragt einen Gutachter, der feststellt, dass der Kratzer durch den Unfall verursacht wurde, jedoch bereits Gebrauchsspuren in Form von Kratzern vorhanden waren. Der Gutachter schätzt die Reparaturkosten auf 600 Euro. Frau Schmidt möchte den Stoßfänger komplett reparieren lassen und fordert die volle Übernahme der Reparaturkosten.
Die Versicherung von Herrn Müller argumentiert, dass ein Teil der Kosten auf die Beseitigung der bereits vorhandenen Kratzer entfällt, die nicht unfallbedingt sind. Frau Schmidt bestreitet, dass es sich bei den vorhandenen Kratzern um einen relevanten Vorschaden handelt, da diese die Funktion des Stoßfängers nicht beeinträchtigen.
Ein Gericht würde in einem solchen Fall zunächst prüfen, ob die Kratzer vor dem Unfall lediglich optische Gebrauchsspuren darstellen oder einen relevanten Vorschaden. Wenn das Gericht zu dem Schluss kommt, dass die vorhandenen Kratzer als normale Gebrauchsspuren einzustufen sind, müsste Herr Müller oder seine Versicherung die vollen Reparaturkosten übernehmen. Sollte jedoch ein relevanter Vorschaden vorliegen, der durch die Reparatur mitbehoben wird, könnte eine anteilige Kostenverteilung nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung erfolgen.
Einfluss der Beweisführung auf die Schadensermittlung
In der Praxis ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Parteien den Zustand des Fahrzeugs vor dem Unfallereignis klar dokumentieren. Fotografien oder frühere Gutachten können helfen, Vorschäden zu belegen oder deren Abgrenzung vom aktuellen Schaden zu erleichtern. Der Geschädigte muss beweisen, dass der Schaden durch den Unfall verursacht wurde und nicht auf einen früheren Vorfall zurückzuführen ist.
Im Falle von Vorschäden hat die Rechtsprechung, wie im Fall des OLG Stuttgart, eine klare Abgrenzung vorgenommen. Der Geschädigte kann nicht einfach den gesamten Schaden geltend machen, wenn ein Teil der Reparaturkosten auch der Beseitigung eines Vorschadens dient. Eine differenzierte Prüfung ist erforderlich, um die Anteile der Kosten zu ermitteln, die auf den Unfallschaden und den Vorschaden entfallen.
Das OLG Stuttgart hat zudem klargestellt, dass der Geschädigte, der bei der Reparatur des Unfallschadens gleichzeitig einen Vorschaden beseitigt, keinen Anspruch auf vollständigen Ersatz der Reparaturkosten hat, sofern diese anteilig auf den Vorschaden entfallen. In einem solchen Fall wird eine Aufteilung der Kosten nach den Grundsätzen der Vorteilsausgleichung vorgenommen.