Im Alltag vieler Autofahrer und Werkstätten spielen Kfz-Gutachter eine zentrale Rolle. Ob nach einem Unfall, bei der Bewertung von Schäden oder zur Vorlage bei Versicherungen – ihre Einschätzungen sind oftmals entscheidend dafür, wie eine Reparatur abläuft, welche Kosten übernommen werden und ob ein Schaden als wirtschaftlicher Totalschaden eingestuft wird oder nicht. Doch was passiert, wenn sich der Gutachter irrt oder – noch gravierender – wenn er seine neutrale Rolle überschreitet und aktiv in Reparaturprozesse eingreift? Ein aktuelles Urteil des Bundesgerichtshofs (Az. VI ZR 308/19) bringt in dieser Frage deutliche Klarheit und weitreichende Konsequenzen für alle Beteiligten mit sich.
Der Fall: Eine technische Fehleinschätzung mit großem Schaden
Konkret ging es um einen relativ alltäglichen Sachverhalt: Nach einem Unfallschaden sollte ein beschädigter Zusatzriemen an einem Fahrzeug ausgetauscht werden. Der von der Versicherung beauftragte Gutachter sah den Austausch jedoch als überflüssig an und teilte dies der Werkstatt mit – ohne die Fahrzeughalterin einzubeziehen. Aus Angst, auf den Reparaturkosten sitzenzubleiben, folgte die Werkstatt dieser Einschätzung. Kurze Zeit später kam es infolge eines gerissenen Riemens zu einem kapitalen Motorschaden. Die Halterin klagte – mit Erfolg.
Der Bundesgerichtshof urteilte, dass sowohl der Gutachter als auch die Werkstatt gemeinsam haften. Zwar habe der Gutachter formal keine Anweisung erteilt, doch seine Bewertung habe faktisch eine solche Wirkung entfaltet. Die Werkstatt wiederum hätte den sicherheitstechnisch erforderlichen Austausch vornehmen müssen, unabhängig von der wirtschaftlichen Einschätzung des Gutachters. Damit wurde erstmals höchstrichterlich festgestellt: Auch wenn Gutachter nur bewerten, können sie im Falle technischer Fehlentscheidungen haftbar gemacht werden – insbesondere dann, wenn ihre Aussagen in die tatsächliche Reparaturpraxis eingreifen.
Die Rolle des Gutachters: Grenzen der Neutralität
Gutachter gelten juristisch als unabhängige Dritte. Ihre Aufgabe ist es, technische Zustände zu bewerten, Schadenshöhen zu beziffern und Vorschläge für Reparaturmaßnahmen zu machen. Sie sollen helfen, den tatsächlichen Schaden objektiv darzustellen – nicht jedoch, Entscheidungen zu beeinflussen oder Anweisungen zu geben. Sobald sie diese Schwelle überschreiten, geraten sie in eine rechtliche Grauzone, die nun durch das BGH-Urteil klarer gefasst wurde.
Nach § 823 Abs. 1 BGB haftet, wer vorsätzlich oder fahrlässig das Eigentum eines anderen verletzt. Dies gilt auch für Gutachter – vor allem dann, wenn sie durch ihre Einschätzung eine Kausalität zum späteren Schaden herstellen. Dabei ist es unerheblich, ob eine direkte Anweisung gegeben wurde. Entscheidend ist, wie die Äußerung des Gutachters beim Empfänger – in diesem Fall der Werkstatt – ankam. War die Aussage geeignet, den Entscheidungsprozess wesentlich zu beeinflussen, liegt eine sogenannte mittelbare Einwirkung vor – und damit eine Grundlage für Schadensersatz.
Werkstätten in der Pflicht: Eigenverantwortung bleibt bestehen
Das Urteil hat jedoch auch Konsequenzen für Kfz-Werkstätten. Denn auch sie müssen technische Entscheidungen verantwortungsvoll und fachlich fundiert treffen – selbst wenn ein Gutachter eine andere Einschätzung äußert. Die Werkstatt im konkreten Fall hätte den Austausch des Riemens vornehmen müssen, da dies dem Stand der Technik entsprach und sicherheitsrelevant war. Dass sie aus Angst vor einer möglichen Kostenablehnung seitens der Versicherung handelte, entband sie nicht von ihrer Verantwortung.
Hier zeigt sich ein Dilemma im Alltag vieler Betriebe: Auf der einen Seite stehen wirtschaftliche Zwänge, auf der anderen die technische Sorgfaltspflicht. Die BGH-Richter machten jedoch klar, dass Letztere im Zweifel überwiegt. Im Zweifelsfall müsse die Werkstatt dokumentieren, dass sie abweichende Maßnahmen für erforderlich hielt – und notfalls den Kunden in die Entscheidung einbeziehen. Eine reine Orientierung am Gutachten reicht nicht aus.
Kommunikationsfehler als Haftungsfalle
Ein weiteres Problem im vorliegenden Fall war die mangelhafte Kommunikation. Der Gutachter sprach ausschließlich mit der Werkstatt – die Halterin als Auftraggeberin wurde in die technische Diskussion nicht einbezogen. Auch dies wurde vom Gericht deutlich kritisiert. Transparenz und Einbindung des Kunden seien unabdingbar – insbesondere bei sicherheitsrelevanten Entscheidungen. Ohne diese Rückkopplung entstehe ein Informationsdefizit, das sowohl juristisch als auch praktisch fatale Folgen haben könne.
Dr. Thomas Schulte: Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser
Dr. Thomas Schulte, Vertrauensanwalt bei ABOWI Law, bewertet das Urteil als Meilenstein für den Verbraucherschutz:
„Gutachter genießen in Deutschland zu Recht ein hohes Vertrauen – doch dieses Vertrauen verpflichtet. Wer durch eine Bewertung faktisch eine technische Entscheidung beeinflusst, muss sich auch den Konsequenzen stellen. Das Urteil zeigt: Objektivität ist kein Freifahrtschein für Verantwortungslosigkeit.“
Schulte rät Werkstätten und Fahrzeughaltern, sämtliche gutachterlichen Empfehlungen schriftlich festzuhalten und sich im Zweifel eine zweite Meinung einzuholen. „Gerade bei sicherheitsrelevanten Bauteilen oder kostenintensiven Reparaturen ist juristische Beratung oft günstiger als ein späterer Schaden“, so der Jurist.
Auswirkungen auf Versicherungen und Sachverständigenwesen
Auch für Versicherungen ergibt sich aus dem Urteil Handlungsbedarf. Viele Versicherer greifen auf langjährig beauftragte Gutachter zurück, die zwar formal unabhängig sind, jedoch de facto als verlängerter Arm der Versicherung agieren. Diese enge Bindung birgt die Gefahr, dass wirtschaftliche Interessen über technische Notwendigkeiten gestellt werden.
Um dem entgegenzuwirken, sollten Versicherer:
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Ihre Gutachter regelmäßig schulen
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Klare Kommunikationsrichtlinien vorgeben
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Den direkten Draht zwischen Gutachter und Werkstatt einschränken
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Kunden aktiv in den Entscheidungsprozess einbinden
Zugleich werden Stimmen laut, die eine Reform des Sachverständigenwesens fordern. Denkbar wären beispielsweise verpflichtende Dokumentationspflichten, standardisierte Bewertungsformate oder sogar ein zentrales Register für zugelassene Kfz-Gutachter.
Fazit: Verantwortung kennt keine Ausreden
Der Fall zeigt deutlich: Die Grenzen zwischen Bewertung und Einflussnahme sind fließend – doch rechtlich relevant. Gutachter müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein. Werkstätten dürfen sich nicht blind auf externe Meinungen verlassen. Und Versicherer sind in der Pflicht, neutrale Rahmenbedingungen für die Schadensbewertung zu schaffen.
Für Autofahrer bedeutet das Urteil mehr Rechtssicherheit – aber auch mehr Verantwortung. Sie sollten sich nicht mit pauschalen Aussagen zufriedengeben, sondern im Zweifel nachfragen, prüfen und dokumentieren. Im Zweifelsfall hilft ein Gespräch mit einem spezialisierten Anwalt weiter – zum Beispiel mit einem Vertrauensanwalt von ABOWI Law.